Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich heute beim Schwimmen entspannen konnte, denn ich brauchte lange, bis ich die richtige Bahn gefunden hatte. Ich schwimme gerne, aber nicht schnell. Auf die Schnellschwimmer*innenbahn traue ich mich oft nicht, im restlichen Becken stören die Plauder-Schwimmer*innen, die spielenden Kinder und diejenigen, die selbstvergessen rückwärts gegen den Strom schwimmen. Ich bin zu höflich für den Bahnenkampf. Ich weiche aus, ich warte, bis die Turboschwimmer*innen gewendet haben, erst dann schwimme ich weiter.
Einmal so viel Selbstbewusstsein wie ein Mann
Und dann kam er. Vermutlich war er früher mal ein Schnellschwimmer. Anders kann ich mir die Selbstverständlichkeit nicht erklären, mit der er die abgegrenzte Bahn wählte. Ich hatte bisher noch nie jemand gesehen, der so langsam schwamm.
Einmal so viel Selbstbewusstsein haben, wie dieser Mann, dachte ich. Es gab keinen Zweifel, dass er sich richtig fühlte. Das war seine Bahn, schließlich trug er eine Schwimmbrille, das Erkennungszeichen all derjenigen, die regelmäßig im Chlorwasser schwimmen und nicht um der Gespräche willen kommen.
Obwohl ich mich in meinem Schwimmfluss gestört fühlte, bewunderte ich den alten Schwimmer. Was würde ich dafür geben, mit solch einer Selbstverständlichkeit Raum einzunehmen und einfach da zu sein. Woher, verdammt noch mal, habe ich diese Höflichkeit, die mich förmlich dazu zwingt, halb unter der Kugelkette zu schwimmen, wenn ich eine schnellere Schwimmer*in von hinten kraulen höre?
Mach dich nicht klein
Als große Schwester bekam ich als Kind oft zu hören, dass ich die Vernünftige und Pflegeleichte zu sein habe. Später wurde mir als Frau bewusst, wo meine Grenzen sind und welche Glasdecke-, mir nicht zu durchstoßen möglich ist. Als Dicke lernte ich, mich mit diesem voluminösen Körper falsch zu fühlen und mich möglichst dünne zu machen. Alles das scheint sich so tief in mich eingegraben zu haben, dass ich Höflichkeit mit Unterwürfigkeit verwechsele.
Im Schwimmbad gibt es keine Verkehrsregeln. Weder gilt rechts vor links, noch gibt es Bahnenberechtigungsscheine. Auch wenn manche strenge Bademeister*in eine Autorität in Badeschlappen ist, die Menschen im Wasser müssen einfach irgendwie miteinander klar kommen. Es gibt Schwimmer*innen, die das simple Hin- und Her bevorzugen, und es gibt die anderen, die keine Begrenzungen sehen und einfach machen, wonach ihnen der Sinn steht. Eigentlich ist das richtig cool!
Schluss mit vorauseilendem Gehorsam
Ich rückte die Schwimmbrille zurecht, stieß mich vom Beckenrand ab und begann fortan ohne Unterwürfigkeit meine Bahnen zu ziehen. Ich schwamm, ohne nach rechts und links, ohne nach vorne und hinten zu schauen. Die Entspannung setzte ein. Es existierte nur noch mein Körper und das Wasser. Einfach so, denn es passierte nichts! Niemand schimpfte mit mir, niemand rempelte mich an. Die Welt ging nicht unter, nur weil ich schwamm, als wäre ich alleine.
Mein stures Schwimmen machte mich berechenbar, es gab den anderen Menschen die Möglichkeit zu reagieren. Anscheinend taten sie das. Vielleicht war es möglich, ganz einfach nebeneinander zu existieren und sich zu arrangieren.
Ich bin richtig, so wie ich bin
Vielleicht, so dachte ich, gibt es auch außerhalb des Schwimmbads noch viel mehr Regeln in meinem Kopf, die in Wirklichkeit gar nicht existieren und vielleicht geht die Revolution viel einfacher, als ich stets dachte. Vielleicht ändert sich die Welt um mich herum alleine schon dadurch, dass ich so, wie es für mich gut ist, durchs Leben schwimme.
Ich brauche gar nicht die passende Bahn zu suchen, denn ich bin richtig wie ich bin. Ein bisschen Höflichkeit schadet sicherlich nicht dabei. Aber ich werde es damit nicht mehr übertreiben.